Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 12.01.2009
Görlitz wehrt sich mit allen Mitteln gegen den Abstieg

Am Obermarkt, im Herzen der Görlitzer Altstadt, kann eine ganz besondere Attraktion besichtigt werden. Denn hier lädt das "Weihnachtshaus" zum Einkaufsbummel ein. Von außen glänzt das historische Bürgerhaus mit frisch sanierten Barockfassaden und Renaissanceportalen, im Inneren beeindrucken reich verzierte Stuckdecken, barocke Kamine, gotische Rundbögen und Holzbohlendecken aus der Renaissancezeit. In diesen Räumen bietet das größte Weihnachtsartikelgeschäft Deutschlands das ganze Jahr über seine Waren an. Auf den Verkaufstischen reihen sich Weihnachtspyramiden aus dem Erzgebirge, handgeschnitzte Leuchter, Schwibbögen, Weihnachtssterne und vieles mehr aneinander.

Der Hausherr dieser Schatzkammer ist Gerd Kolley, der Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Görlitz (WBG). Die WBG ist das größte Wohnungsunternehmen in Görlitz und Eigentümer zahlreicher Baudenkmäler. Kaufmannshäuser aus der Renaissancezeit zählen ebenso dazu wie barocke Bürgerhäuser oder reich verzierte Mietshäuser aus der Gründerzeit. "Görlitz ist eine der schönsten Städte Deutschlands", erklärt Kolley stolz. Deshalb tut er viel, um diesen Schatz zu bewahren. Das Gebäude am Obermarkt hat er für die enorme Summe von 2060 Euro pro Quadratmeter Nutzfläche saniert. Ein Großteil der Innenstadthäuser präsentiert sich heute in neuem Glanz.

Allerdings zeugt das "Weihnachtshaus" auch von den Schwierigkeiten, mit denen Kolley zu kämpfen hat. Denn das schöne Gebäude erwirtschaftet ein horrendes Defizit, weil die WBG die Räume des "Weihnachtshauses" "fast zum Nulltarif" vergibt, wie Kolley erklärt. Diese Probleme haben mit der wirtschaftlichen und demografischen Krise von Görlitz zu tun. Die Zahl der Industriearbeitsplätze hat sich nach 1990 von 17.500 auf 4000 verringert, die Arbeitslosenquote erhöhte sich auf zeitweise fast 30 Prozent, und die Bevölkerungszahl sank von 78.000 im Jahr 1989 auf derzeit 57.000. Deshalb fällt es Kolley immer schwerer, Mieter für seine wunderschön herausgeputzten Altbauten zu finden. Diese Nöte haben sich in jüngster Zeit noch verschärft. Einerseits setzt der Trend zu energiesparenden Gebäuden den Altbauten zu. Viele Altbauwohnungen verfügen über Raumhöhen von teilweise 4,50 Meter sowie schlecht gedämmte Stuckfassaden und verbrauchen entsprechend viel Energie. Andererseits steigt auch in Görlitz die Zahl der einkommensschwachen Rentner, die sich eine teure Altbauwohnung nicht leisten können. Folgerichtig stehen mittlerweile 47 Prozent aller Innenstadtwohnungen leer.

Dennoch resigniert Kolley nicht. Oft geht er bis an die Grenzen seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, um Altbauten zu retten. Und er hofft, dass eines Tages eine Trendwende einsetzt, dass neue Arbeitsplätze Zuzügler nach Görlitz locken und dass die vielen leeren Wohnungen neue Mieter erhalten.

Allerdings hat Kolley auch einen mächtigen Gegner: das Bundesbauministerium. Das Ministerium, das auch für den Aufbau Ost zuständig ist, will das Leerstandsproblem auf eine ganz andere Weise lösen. Es setzt nicht in erster Linie auf Wirtschaftsentwicklung und Wachstum, sondern auf den massenhaften Abriss von Wohnungen. 2001 wurde das Programm "Stadtumbau Ost" beschlossen, das den Abriss von 350.000 Wohnungen in Ostdeutschland bis 2009 vorsieht. Dank dieses Programmes werden Hauseigentümer wie Kolley mit Abrissfördergeldern regelrecht überflutet. Insgesamt sollen in Görlitz rund 8500 Wohnungen abgerissen werden, um die Vorgaben aus Berlin zu erfüllen.

Doch Kolley hat gar kein Interesse an dermaßen hohen Abrissfördergeldern. Er hat vielmehr Angst, dass die Umsetzung all der geforderten Abrisse zu unwiederbringlichen Verlusten für das Görlitzer Stadtbild führen würde. Manche auswärtigen Experten empfehlen ihm dann, einfach Wohngebäude aus der DDR-Zeit abzureißen. Doch diese Gebäude sind gut belegt, und das, obwohl die WBG und die Stadtverwaltung unzählige Versuche gestartet haben, um die Bewohner der DDR-Siedlungen in Altbauwohnungen zu locken. Jedes Jahr organisierte die Stadt einen "Tag der offenen Sanierungstür", an dem sanierte Altbauwohnungen präsentiert wurden. Im Februar 2007 wurden die Bewohner von DDR-Siedlungen mit Werbepostkarten überrascht, die für das Wohnen im Altbau warben. 2008 folgte die Aktion "Probewohnen" , während der Interessierte eine Woche lang kostenfrei in einer Altbauwohnung der WBG wohnen konnten und zur Belohnung sogar zwei IKEA-Möbel erhielten. Und immer wieder startete die WBG Vermietungsaktionen, bei denen Altbauwohnungen zum halben Preis offeriert wurden. Doch gebracht haben diese Bemühungen nichts. Die Werbepostkarten stießen sogar auf eine dermaßen erbitterte Ablehnung, dass ihre Versendung abgebrochen werden musste. Mittlerweile glaubt Kolley nicht mehr an eine Umzugswelle aus den DDR-Siedlungen in die Altbauquartiere. "Viele Görlitzer können sich Altbauwohnungen mit hohen Betriebskosten einfach nicht leisten", erklärt er.

Kolley könnte die geforderten Abrisszahlen deshalb nur durch Altbauabrisse umsetzen, die er aber auch vermeiden will. Aus diesen Gründen hat er bisher nur rund 1200 statt der geforderten 8500 Wohnungen abgerissen. Auch in Zukunft möchte er lieber Gebäude erhalten als abreißen. Deshalb fordert er seit Jahren, dass das Stadtumbau Ost-Programm wenigstens flexibler gehandhabt wird. Denn derzeit enthält das Programm extrem rigide Vorschriften, die in vielen Fällen einen Abriss geradezu erzwingen. Diesen Missstand will er ändern. Nach seinen Vorstellungen sollen nicht mehr die Ministerialbeamten in Berlin, die oft keine Ahnung von der lokalen Situation haben, sondern die Verantwortlichen vor Ort über die Verwendung der Gelder entscheiden. Kolley hat versucht, diese Vorschläge über die Branchenverbände GdW und VDW Sachsen einzubringen. Doch bisher sind seine Forderungen auf taube Ohren gestoßen.

Für die Stärkung von Görlitz kämpft auch Rolf Kammann von der städtischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH. Kammann sieht durchaus Chancen für seine Stadt. "Görlitz liegt mitten in Europa", erklärt er. Er verweist auf die Lage zwischen den aufstrebenden Städten Dresden und Breslau sowie auf die relative Nähe zu Berlin und Prag. Deshalb hat er große Pläne, die Görlitz wieder auf die Erfolgsspur bringen sollen. Ein Projekt ist die Schaffung großer Industriegebiete für die Ansiedlung von Industrieunternehmen. Im Visier des Wirtschaftsförderers sind vor allem Unternehmen der Bahnindustrie und des Maschinenbaus, die mit dem bereits vorhandenen Bombardier-Waggonwerk und dem Siemens-Dampfturbinenwerk kooperieren könnten. Ein weiteres Projekt ist das European Logistics Center auf dem Gelände eines ehemaligen Bahnbetriebswerkes. Hier sollen nicht nur Gewerbeflächen, sondern auch ein KV-Terminal für den Kombinierten Verkehr zwischen LKW und Bahn entstehen. "Görlitz könnte ein wichtiger Güterumschlagplatz werden", hofft Kammann.

Doch diese Pläne kollidieren immer wieder mit den politischen Realitäten. Die Bahnstrecken nach Dresden und Berlin beispielsweise sind schlecht ausgebaut und werden nur von Nahverkehrszügen befahren. Ein Ausbau und eine Elektrifizierung dieser Strecken ist zwar im Bundesverkehrswegeplan enthalten. Doch eine Realisierung ist nicht in Sicht. Denn während Gelder für Abrisse überreichlich bereitgestellt werden, sind Gelder für den Verkehrsausbau Mangelware. Schwierigkeiten bereitet auch die Straßenanbindung. Zwar wird derzeit auf polnischer Seite die Autobahn Görlitz - Breslau gebaut. Doch für die Anbindung der Industriegebiete an die Autobahn wird eine neue Straße, die Südwestumfahrung, benötigt. Diese scheitert allerdings immer wieder am Geldmangel. "Wir haben schon Investoren verloren, weil die Südwestumfahrung nicht gebaut wird", berichtet Kammann. Und auch das European Logistics Center bereitet Probleme. Zwar gibt es ein Förderprogramm des Bundesbauministeriums, das den Bau von KV-Terminals fördert. Doch für dieses Programm gibt es viel mehr Anträge als Gelder. Kammann fordert deshalb, dass mehr Gelder für den Infrastrukturausbau bereitgestellt werden.

Im verantwortlichen Bundesbauministerium allerdings zeichnen sich derzeit andere Prioritäten ab. Im Sommer 2008 hat das Ministerium Pläne für eine Weiterführung des Programms "Stadtumbau Ost" vorgestellt. Demnach sollen zusätzlich zu den bisher geplanten 350.000 Wohnungsabrissen nochmals 220.000 Wohnungen abgerissen werden. Gegenwärtig wird über die Finanzierung der Abrisse verhandelt. Eine Lösung der Görlitzer Infrastrukturprobleme ist dagegen nicht in Sicht. Die Görlitzer werden also weiter kämpfen müssen.

Matthias Grünzig