Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 03.11.2008
Die WG Einheit - mit Mut zum Erfolg (Chemnitz)

Wenn Andreas Pauly Gäste durch seine Heimatstadt Chemnitz führt, dann verbreitet er jede Menge Optimismus. "In Chemnitz hat sich in den letzten Jahren viel getan", berichtet er. Stolz präsentiert er die Stadtteile Markersdorf und Hutholz, in denen die Aufbruchsstimmung unübersehbar ist. Viele Wohnblöcke aus den siebziger und achtziger Jahren sind frisch saniert und leuchten in hellen Farben. Andernorts herrscht noch Baustellen-Atmosphäre. Fast beendet sind die Bauarbeiten an der Alfred-Neubert-Straße, wo ein langer Wohnblock in Stadtvillen mit Eigentumswohnungen zerteilt wurde. Noch im Bau ist ein elfgeschossiges Hochhaus an der Johannes-Dick-Straße, das gerade zu einem Mehrgenerationenhaus umgebaut wird. Eine Musterwohnung kann bereits besichtigt werden. "Schauen Sie nur, wie schön die Aussicht ist", schwärmt Pauly. Tatsächlich: Weil Markersdorf und Hutholz auf Hügeln liegen, bieten viele Wohnungen eine herrliche Fernsicht auf das Erzgebirge. An der Max-Opitz-Straße wiederum werden fünfgeschossige Wohnblöcke in zweigeschossige Reihenhäuser mit Gärten verwandelt.

Aber nicht nur Häuser werden gebaut. Gerade fertig geworden ist der Park "Markersdorfer Oase", der mit Sitzecken, einem Teich und Liegewiesen einlädt. "Chemnitz hat mittlerweile mehr Grünanlagen als Dresden", berichtet Pauly. Besonders stolz aber macht ihn die Tatsache, dass diese Leistungen durch genossenschaftliche Selbsthilfe geschaffen wurden. Verantwortlich für all die Baumaßnahmen ist die 1954 gegründete Wohnungsgenossenschaft (WG) Einheit, der auch Pauly angehört und die in den letzten Jahren einen erstaunlichen Aufschwung genommen hat.

Die Erfolgsgeschichte der WG Einheit begann mit einer Krise. Denn nach 1990 erlebte auch Chemnitz einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Bevölkerungszahl verringerte sich von 312.000 auf derzeit 242.000 Einwohner, der Wohnungsleerstand stieg auch bei der WG Einheit auf Rekordwerte an. 2001 beschloss die Bundesregierung das Programm "Stadtumbau Ost", das den Wohnungsabriss förderte. Auch die Chemnitzer Stadtverwaltung entwickelte Abrisspläne. Die WG Einheit sollte demnach 3500 ihrer 8000 Wohnungen abreißen. Ganze Stadtteile, darunter auch Teile von Markersdorf und Hutholz, wären dem Erdboden gleich gemacht worden.

Doch Pauly war mit den Abrissplänen überhaupt nicht einverstanden. Schließlich wohnte er gern in Markersdorf und wollte keineswegs umziehen. Zudem waren die Wohnungen der Genossenschaft das Eigentum der Genossenschaftsmitglieder. "Für meine Genossenschaft habe ich viele Aufbaustunden geleistet", erklärt Pauly. Die Abrisse hätten das hart erarbeitete Vermögen vernichtet.

Auch Roswitha Kühnel, die Vorstandsvorsitzende der WG Einheit, war von den Abrissplänen alles andere als begeistert. "Die Abrisspläne hätten die WG Einheit in die Insolvenz getrieben", erklärt sie. Doch was konnte getan werden, um das Ende der Genossenschaft abzuwenden? Kühnel organisierte zunächst einmal einen Dialog mit den Genossenschaftlern. Bald war klar, dass die Abrisspläne der Stadt von fast allen Genossenschaftsmitgliedern abgelehnt wurden. Allerdings brachte die Ablehnung der Abrisspläne erhebliche Probleme mit sich. Denn dermaßen viel Eigensinn hätte den Vorschriften des Stadtumbau Ost-Programms widersprochen und zu Einschränkungen bei der Fördermittelvergabe geführt. Deshalb suchte die Genossenschaft den Rat von Experten. Sie beriet sich mit Marketing-Experten der Technischen Universität Chemnitz, verhandelte mit Banken, holte die Expertise von Unternehmensberatern ein. Am Ende traf die WG Einheit eine mutige Entscheidung: Sie lehnte die Umsetzung der städtischen Abrisspläne ab und beschloss stattdessen ein eigenes Sanierungskonzept.

Anschließend startete die Genossenschaft eine Sanierungsoffensive. Für fast 150 Millionen Euro wurden zahlreiche Wohnblöcke einer Schönheitskur unterzogen. Andere Gebäude erfuhren einen Teilrückbau. Fünfgeschossige Wohnblöcke ohne Aufzug, in denen sich die oberen Wohnungen nur schwer vermieten ließen, wurden auf zwei bis drei Geschosse verkürzt. Auch die Wohnungsgrundrisse erfuhren eine Veränderung. Wohnungen mit kleinen, fensterlosen Bädern und Küchen erhielten großzügige, helle Räume. Mehrere Hochhäuser wurden zu altersgerechten Wohnanlagen umgebaut, die nicht nur barrierefreie Wohnungen, sondern auch Pflegestationen, Seniorenfreizeitstätten, Ärzte und Conciergen bieten. Andere Gebäude wurden in komfortable Wohneigentumsanlagen verwandelt. "Wohneigentum ist wichtig für die soziale Mischung in den Wohngebieten", erklärt Kühnel die Strategie. Besonders großen Wert legte die Wohnungsgenossenschaft auf die energetische Sanierung ihrer Wohnblöcke. Auch deshalb prangt an jedem Hauseingang eine große Energieverbrauchstafel, an der der Bürger den Energieverbrauch des jeweiligen Hauses ablesen kann.

Einige unattraktive Wohnblöcke wurden komplett abgerissen. Allerdings zeigte sich die Genossenschaft auch bei der Nutzung der Abrissflächen kreativ. Auf einigen Flächen entstanden genossenschaftseigene Parks wie die "Markersdorfer Oase". Andere Flächen wurden für den Eigenheimbau erschlossen oder mit Garagen bebaut, die für 30 bis 50 Euro im Monat gemietet werden können.

Und noch etwas hat sich die WG Einheit einfallen lassen. Sie arbeitet seit 2007 mit der "Chemnitzer Rückholaktion" der Industrie- und Handelskammer sowie der Handwerkskammer zusammen, die Fachkräfte nach Chemnitz locken soll. Denn mittlerweile hat sich die Chemnitzer Wirtschaft dermaßen gut entwickelt, dass qualifizierte Arbeitskräfte langsam knapp werden. Deshalb wirbt die Initiative überall in Deutschland um Zuzügler, und die Wohnungen der WG Einheit dienen als Zuzugsargument.

Gleichzeitig hatte die WG Einheit immer wieder mit Gegenwind zu kämpfen. Vor allem die Stadtverwaltung, die nach wie vor an ihren Abrissplänen festhielt, bereitete den Genossenschaftlern viel Kopfzerbrechen. Ganz im Sinne dieser Planungen schloss die Stadt zahlreiche Kindergärten, Schulen und Schwimmhallen. Die Genossenschaft bemühte sich immer wieder, diesen Verschlechterungen entgegenzuwirken. Sie bezahlte den Ausbau eines Kindergartens und bot der Stadt die Finanzierung einer Schulsanierung an. Die Stadt allerdings lehnte das Angebot ab. Konfliktreich war auch die Zusammenarbeit mit der städtischen Grundstücks- und Gebäudewirtschaftsgesellschaft (GGG), der viele Gebäude in der Nachbarschaft der WG Einheit gehören. Die GGG folgte den Abrisskonzepten der Stadt und ließ deshalb viele ihrer Wohnblöcke verwahrlosen oder abreißen. Die Folge ist, dass neben frisch sanierten Wohnblöcken der WG Einheit oft unsanierte Schandflecke der GGG stehen. Die Genossenschaft bot der GGG die Übernahme und Sanierung dieser Wohnblöcke an. Doch die GGG lehnte das Angebot ab.

Manchmal zwangen die Konflikte sogar zu schnellen Reaktionen. Ende 2007 beispielsweise gab die GGG den Abriss von 455 Wohnungen in Hutholz bekannt. Die WG Einheit reagierte prompt: Sie beschloss kurzfristig ein Sanierungsprogramm für Hutholz. "Wir mussten ein Zeichen setzen, dass Hutholz eine Zukunft hat", begründet Kühnel den Entschluss.

Aber auch diese Konflikte konnten den Aufschwung der WG Einheit nicht stoppen. Seit 2005 verzeichnet die Genossenschaft wieder mehr Zuzüge als Fortzüge. Der Wohnungsleerstand der Genossenschaft konnte von 28 Prozent auf aktuell 5,9 Prozent gesenkt werden. Vor allem in jüngster Zeit hat die Nachfrage nach den Genossenschaftswohnungen zugenommen. "Jetzt zahlen sich unsere energetischen Sanierungen aus", erklärt Kühnel. Denn während viele Privatvermieter schlecht gedämmte Wohnungen anbieten, die Heizenergieverbräuche von 130 Kilowattstunden pro Quadratmeter pro Jahr aufweisen, liegt der gleiche Wert bei Wohnungen der WG Einheit bei 50 Kilowattstunden pro Quadratmeter pro Jahr. Die Folge sind Umzüge in die Wohnungen der WG Einheit. "Je höher die Energiepreise, umso voller unsere Wohnungen", beschreibt Kühnel den Zusammenhang.

Mittlerweile steht die Genossenschaft vor neuen Herausforderungen. Denn derzeit wird ein neues Stadtentwicklungskonzept für Chemnitz entwickelt, bei dem die Genossenschaft ein großes Wort mitreden will. Deshalb hat sie bei der Freien Universität Berlin eine Studie zum Stadtumbau in Chemnitz in Auftrag gegeben. Die Forscher fanden heraus, dass der Stadtumbau der WG Einheit von 90 Prozent der Befragten positiv bewertet wird. Auch deshalb hofft Roswitha Kühnel auf eine Stadtentwicklungspolitik, die weniger auf Abriss und mehr auf Umbau setzt. "Dass dieser Weg erfolgreich ist, das haben wir schließlich bewiesen", begründet sie ihren Optimismus.

Matthias Grünzig