Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.01.2007
Schrumpfende Denkmale (Eisleben)

Eisleben hat viele Reichtümer zu bieten. Die Stadt ist Geburts- und Sterbeort von Martin Luther, UNESCO-Welterbestadt und ein Stadtdenkmal, das mit einem wertvollen Bestand an Renaissance- und Barockbauten aufwarten kann. Daß diese Kostbarkeiten eine Zukunft haben würden, schien bisher außer Frage zu stehen. Denn bis jetzt galt es als selbstverständlich, daß die Vertreter der Stadtverwaltung, der Denkmalpflege, der Landes- und Bundesregierung alles tun würden, um derartige Schätze zu erhalten und zu stärken. Doch in Zukunft werden wir wohl umdenken müssen. Denn in Eisleben wurde kürzlich ein "Konzeptioneller Stadtumbauplan mit integrierter Denkmalpflege" erarbeitet, der sich wie eine Kapitulationserklärung der Denkmalpflege liest.

Einen Eindruck von den Gefahren, die Eisleben drohen, vermittelt ein Gang durch die Stadt. An der Petristraße sind leere Ackerbürgerhöfe aus der Renaissancezeit dem Verfall ausgeliefert. Die Sangerhäuser Straße erschreckt mit einer ganzen Reihe verwaister barocker Bürgerhäuser. Nicht besser steht es um das Neustädter Rathaus, das zwischen 1571 und 1589 erbaut wurde und ebenfalls verlassen ist. Von den weiteren Folgen des Leerstandes erzählen die Abrißflächen, die sich überall in der Innenstadt ausbreiten. In der Lutherstraße gähnen Baulücken, wo bis 2004 Handwerkerhäuser aus dem 17. Jahrhundert standen. Vom Vikariatsgebäude aus dem frühen 16. Jahrhundert stehen seit seinem Einsturz 1999 nur noch klägliche Mauerreste. In der Sangerhäuser Straße verschwand ein Haus, dessen Entstehung in das 16. Jahrhundert zurückreichte, und am Markt mußte 2002 ein Renaissancehaus weichen.

All diese Bilder illustrieren eine Entwicklung, die gemeinhin "Schrumpfung" oder "demografischer Wandel" genannt wird und die Eisleben seit 1990 in ihrem Würgegriff hält. Zuerst mußte der einst wichtigste Arbeitgeber der Stadt, das "Mansfeld-Kombinat", seine Arbeit einstellen, dann stieg die Arbeitslosenquote auf über 25 Prozent an, anschließend folgten eine Abwanderung, ein Bevölkerungsrückgang von 26.000 auf rund 19.000 Einwohner und ein steigender Leerstand, auf den die Hauseigentümer auf ihre Weise reagierten. Einige von ihnen warteten ab, bis sie ihre unrentablen Objekte durch Einstürze los wurden, andere versuchten vergeblich, ihre Denkmäler zu verschenken. Am Ende rissen Abbrüche und Einstürze immer größere Löcher in den Stadtkörper.

Natürlich fehlte es nicht an Versuchen der Stadt, die Altstadt trotz der Schrumpfung zu erhalten. Die Stadt hat das Katharinenstift mit Gebäuden aus der Renaissance- und Barockzeit zu einem Bürgerzentrum mit Wohnungen, Läden, Gaststätten und Kulturangeboten umgebaut. Zudem wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010 ein Projekt zur Revitalisierung der Altstadt gestartet. Auf vielen Brachflächen wurden rote Türen aufgestellt, die um neue Nutzer warben. Doch am Niedergang der Altstadt konnten auch diese Bemühungen nichts ändern. Denn wo die Bevölkerungszahlen zurück gehen, gibt es auch keine Interessenten für innerstädtische Bauprojekte. Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Prognosen sagen sogar einen weiteren Rückgang der Bevölkerung auf 16.000 Einwohner im Jahr 2010 voraus.

In ihrer Not suchte die Stadt schließlich Hilfe von außen. Und tatsächlich entstand eine in Deutschland bisher einmalige Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung, dem Leipziger "Büro für urbane Projekte" und dem sachsen-anhaltinischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie. Eisleben wurde eine Modellstadt, in der der Umgang mit Baudenkmälern unter Schrumpfungsbedingungen vorexerziert werden sollte. Doch wer von dieser gemeinsamen Kraftanstrengung neue Perspektiven für die leer stehenden Baudenkmäler erhofft hatte, der sah sich getäuscht. Denn die Verantwortlichen entwickelten keine Konzepte für den Kampf gegen die Schrumpfung, keine Ideen für neue wirtschaftliche Perspektiven, sondern beschlossen vor allem eine Reduzierung des Denkmalschutzes. Der von ihnen erarbeitete "Konzeptionelle Stadtumbauplan mit integrierter Denkmalpflege" entwickelt eine Unterscheidung zwischen wertvollen, erhaltenswerten Denkmälern und jenen Denkmälern, die für entbehrlich gehalten werden. Bei ihnen geht es um "die Reduktion vermarktungsresistenten Wohnraumes in alter Bausubstanz", also um den Abriß. Entbehrlich sind demnach Ackerbürgerhöfe aus der Renaissancezeit an der Petristraße und barocke Bürgerhäuser an der Sangerhäuser Straße. Zudem werden ganze Straßenzüge, wie die Freistraße mit barocken Ackerbürgerhöfen und der Breite Weg mit Wohnhäusern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, als "defizitäre Lage" definiert und zur Disposition gestellt. Auch das Landesdenkmalamt, das sich bisher gegen Abrisse ausgesprochen hatte, hat dieser Denkmalreduzierung zugestimmt. Dessen Verantwortliche hoffen, daß der geplante Aderlaß die Rettung der übrigen Denkmäler ermöglicht.

Daß diese Rechnung aufgeht, ist allerdings zweifelhaft. Denn alle Erfahrungen haben gezeigt, daß die Schrumpfung eine Eigendynamik entfaltet, die auch vor den wertvollsten Gebäuden nicht Halt macht. Deshalb werden die Abrisse und Einstürze in Eisleben auch in Zukunft weitergehen. Das Beispiel Eisleben erweist sich also als ein böses Omen für die gefährdeten Baudenkmäler. Sie werden künftig noch weniger Schutz genießen. Am Ende könnte sogar das Unvorstellbare Wirklichkeit werden: Daß ganze Kulturlandschaften von der Landkarte verschwinden.

Matthias Grünzig