Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Neue Zürcher Zeitung 20.03.2006
Eine Stadt stirbt an ihren Häusern (Weißenfels)

Peter Seyfried, der als Denkmalpfleger im Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt arbeitet, ist eigentlich ein besonnener Mann, der seine Worte sorgfältig abwägt. Doch wenn er von seiner Heimatstadt Weißenfels spricht, dann entfahren ihm schon drastische Formulierungen. Eine "kulturelle Tragödie" nennt er die Ereignisse, die sich derzeit in Weißenfels abspielen.

Weißenfels ist eine Stadt im Süden Sachsen-Anhalts, die einen ungewöhnlichen Reichtum an Barockarchitektur zu bieten hat. Wenn Seyfried von diesem Schatz erzählt, dann gerät er ins Schwärmen. "Hier lässt sich die Struktur einer barocken Residenzstadt noch heute nachvollziehen", erklärt er die Besonderheit der Stadt. Denn zwischen 1656 und 1746 diente Weißenfels als Residenzstadt des kleinen Herzogtums Sachsen-Weißenfels. Aus dieser Zeit stammt das Schloss Neu Augustusburg, das auf einem Hügel oberhalb der Stadt thront, das Fürstenhaus, in dem einst der herzogliche Kanzler regierte, das Prinzessinnenpalais, in dem die Erzieherinnen der Prinzessin wohnten, das herzogliche Ballhaus, das Hofmarschallhaus und die Kavalierhäuser, in denen die Hofbeamten lebten. Ebenfalls erhalten sind die imposante Marienkirche, die Orangerie, der Marstall, die Hoffischerei, die Häuser für die wohlhabenden Bürger und die bescheideneren Häuser der Kleinbürger und Handwerker.

Aber auch kulturell war Weißenfels "hoch bedeutend", wie Seyfried betont. Hier wirkten Musiker wie Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, die Dichter Novalis und Johann Gottfried Seume sowie die Theatermacherin Caroline Neuber. Die Spuren dieser Vergangenheit sind in Weißenfels noch heute allgegenwärtig. Seyfried verweist auf die vielen prächtigen Fassaden mit ihrem reichen Figurenschmuck, Ornamenten und Pilastern, auf die originalen Türbestände aus der Barockzeit, auf die wertvollen Stuckdecken, Bohlenstuben und barocken Treppenhäuser. "Hier sind noch Schätze zu finden, die anderswo längst verloren sind", erklärt er. An manchen Stellen der Altstadt fühlt er sich gar an die Dresdner Altstadt vor ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erinnert.

Umso schmerzhafter berühren ihn die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren in Weißenfels vollzogen haben. Denn heute ist Weißenfels vor allem eine Stadt der Abrissbagger. An der Marienstraße verschwanden barocke Bürgerhäuser aus der Zeit um 1720, an der Nikolaistraße wurde der Theatersaal "Stadthallen" ein Opfer der Abrissbirne, an der Saalstraße sind weitere Barockhäuser gefallen. Und die Liste der Abrisse ließe sich lange fortsetzen. Beseitigt wurden ein Haus an der Schützenstraße, in dem der sächsische Premierminister Heinrich von Brühl geboren wurde, ein wertvolles Fachwerkhaus von 1668, barocke Bürgerhäuser in der Klosterstraße und unzählige Kleinbürgerhäuser in der Hohen Straße, in der Leipziger Straße und am Klingenplatz. Viele der noch vorhandenen Häuser lassen ebenfalls Schlimmes befürchten. Die Barockhäuser in der Klosterstraße erschrecken mit rissigen Wänden und zugenagelten Fenstern, vom prächtigen Hofmarschallhaus sind schon einige Stuckelemente abgefallen, und in der Hoffischerei sind einzelne Gebäudeteile sogar ganz eingestürzt. "Wenn nicht endlich mehr für die Stadtsanierung getan wird, dann wird die Barockstadt Weißenfels ganz verschwinden", mahnt Peter Seyfried.

Mehr für die Stadtsanierung tun würde auch Bernd Steudtner, der Geschäftsführer der "Wohnungsbau Wohnungsverwaltung Weißenfels GmbH" (WVW), der ein großer Teil der Weißenfelser Häuser gehört. Doch auch er kann von Tragödien berichten, die vor allem mit der wirtschaftlichen Lage von Weißenfels und seiner Wohnungsgesellschaft zu tun haben. Die Probleme beginnen schon bei den exorbitanten Kosten der Altbausanierung. Steudtner berichtet von Deckenbalken, die vom Schwamm befallen sind, von feuchtem Mauerwerk, von Kellergewölben, die eingestürzt sind und erst aufwändig saniert werden müssen, aber auch von den Mühen, die nötig sind, um die alten Gemäuer den heutigen Brandschutzvorschriften anzupassen. Auf diese Weise kommen Sanierungskosten zusammen, die nicht selten bei 3500 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche liegen.

Doch trotz dieser Aufwendungen lassen sich die sanierten Wohnungen häufig nur schwer vermieten. Dieses Manko hat einerseits mit der Wirtschaftskraft von Weißenfels zu tun. Denn wie so viele ostdeutsche Städte hat auch Weißenfels mit einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent, einem Bevölkerungsrückgang von 39.000 auf 30.000 Einwohnern und einem Wohnungsleerstand von rund 20 Prozent zu kämpfen. Andererseits zeigt sich in Weißenfels noch ein weiteres Dilemma. "Uns fehlen hier die Schichten, die gern in der Altstadt wohnen", beschreibt Steudtner das Problem. In Weißenfels gibt es eben kein ausgeprägtes Bildungsbürgertum, das die barocke Architektur zu schätzen weiß, keine Studenten, die das Innenstadtflair lieben, kaum Kunstliebhaber, die sich von der Geschichte der Altstadt inspirieren lassen. Dieser Mangel hat seine Ursachen: Denn in Weißenfels ist weder eine Hochschule noch eine größere kulturelle Institution oder ein Forschungsinstitut beheimatet, das qualifizierte Bürger anlocken könnte. Die Folge ist ein Wohnungsleerstand von 45 Prozent in der Altstadt, dem auch durch Sanierungen nicht beizukommen ist. Am Ende stehen wirtschaftliche Katastrophen, wie sie etwa in der Klosterstraße zu besichtigen sind. Hier hat die WVW 1997 ein Bürgerhaus aufwändig saniert. Doch jetzt finden sich keine Mieter für die Wohnungen. Die Konsequenz: Demnächst wird die Gesellschaft das sanierte Haus abreißen müssen.

Aber auch andere Versuche der Altstadtbelebung sind gescheitert. Beispielsweise hat die WVW versucht, leer stehende Häuser an sanierungswillige Nutzer zu einem symbolischen Preis zu verkaufen. Doch kaum ein Interessent wollte die alten Gebäude haben. Nur ein Umstand hat die WVW vor der Insolvenz bewahrt. Die Gesellschaft besitzt einen größeren Bestand an Plattenbauwohnungen, die sehr gefragt sind und hohe Gewinne erwirtschaften. Hier kostet die Sanierung nur zwischen 350 und 480 Euro pro Quadratmeter, hier gibt es Aufzüge, Balkons und PKW-Stellplätze, die vor allem von den älteren Bewohnern geschätzt werden. "Mit den Gewinnen der Plattenbauten alimentieren wir die defizitären Altbauten", erklärt Steudtner seine Unternehmensstrategie. Doch solange ein Zuzug von Altstadtliebhabern ausbleibt, wird auch diese Quersubventionierung nicht helfen. "Wenn es so weitergeht wie jetzt, dann wird die Barockstadt Weißenfels nicht zu halten sein", lautet sein drastisches Fazit.

Auch der Weißenfelser Oberbürgermeister Manfred Rauner überlegt, wie er neue Einwohner in die Altstadt locken könnte. Seine Vision ist eine Hochschule, die im Schloss ihre Vorlesungen abhält und deren Studenten und Dozenten in der Altstadt wohnen. Gern hätte er eine "Mitteldeutsche Akademie für Kultur" im Schloss angesiedelt. Doch das Land Sachsen-Anhalt, das für die Finanzierung derartiger Einrichtungen zuständig ist, lehnte eine Finanzierung des 50 Millionen Euro teuren Projektes ab. Jetzt hofft er auf die die Ansiedlung einer medizinischen Hochschule.

Die Stadt Weißenfels wiederum kann neue Bildungsstätten erst recht nicht finanzieren. Denn zur Zeit benötigt die Stadt schon Unsummen, um wenigstens die wichtigsten Gebäude zu unterhalten. Für die Sanierung des Schlosses werden mindestens 35 Millionen Euro veranschlagt, für das Fürstenhaus werden über 4 Millionen Euro gebraucht, und die Sanierung eines Bürgerhauses am Markt wird 3,5 Millionen Euro kosten. Diese Kosten übersteigen die Finanzkraft der Stadt deutlich. Obwohl die Stadt fast ihre gesamten Investitionsausgaben in die Altstadtsanierung steckt, kann sie jedes Jahr nur eine Million Euro an Sanierungsgeldern aufbringen. So bleibt am Ende nichts anderes übrig, als "Prioritäten zu setzen", wie es Rauner formuliert. Demnach wird die Stadt alles versuchen, um wenigstens einige besonders markante Gebäude, wie das Schloss, das Fürstenhaus und den Marktplatz, zu erhalten. Doch die vielen anderen Baudenkmäler, die das barocke Weißenfels ausmachen, werden wohl dem Abrissbagger zum Opfer fallen.

Matthias Grünzig