Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.12.2005
Wo bleiben die Altstadtwärter? (Wurzen)

Das sächsische Wurzen erscheint auf den ersten Blick wie eine unauffällige Kleinstadt. Die Stadt, die während des 15. und 16. Jahrhunderts als Bischofssitz diente, verfügt über einen reizvollen Altstadtkern mit Bürgerhäusern aus vier Jahrhunderten, dem gotischen Mariendom und dem spätgotischen Bischofsschloß. Östlich davon breitet sich die Ostvorstadt mit ihren Gründerzeithäusern und Wohnanlagen aus der Zeit der Weimarer Republik aus. Und in Wurzen-Nord erstrecken sich Plattenbau- und Großblocksiedlungen aus der DDR-Zeit.

Dennoch könnte Wurzen einen Vorgeschmack auf die Zukunft vieler deutscher Städte bieten. Denn hier hat nicht nur ein Bevölkerungsrückgang von fast 20.000 auf 15.000 Einwohner stattgefunden, sondern auch der Anteil der Senioren zugenommen. Mittlerweile sind rund 32 Prozent aller Wurzener älter als 60 Jahre. Zum Vergleich: In Berlin liegt dieser Anteil lediglich bei knapp 23 Prozent. Die Mischung aus Bevölkerungsverlust und Alterung, die nach Prognosen der Demografen fast allen deutschen Städten bevorstehen könnte - in Wurzen ist sie bereits Realität. Aus diesem Grund wurde Wurzen vor zwei Jahren von der sächsischen Staatsregierung zur Modellstadt für eine zukunftsweisende Stadtentwicklung erklärt.

Wie sieht diese Zukunft nun praktisch aus? Die Altstadt wirkt zwar auf den ersten Blick gepflegt. Doch auf den zweiten Blick wird sichtbar, daß sich hinter vielen sanierten Fassaden nur leere Wohnungen verbergen. Ähnlich sieht es in der Ostvorstadt aus. Auch hier gibt es zahlreiche sanierte Häuser, die mit verspielten Jugendstilornamenten, Terrakottaschmuck und Stuckfassaden prunken und dennoch leer stehen. In Wurzen-Nord dagegen künden volle Klingelschilder von einer zahlreichen Bewohnerschaft. Die Statistik erhärtet diesen Befund: In der Gesamtstadt stehen 20,9 Prozent aller Wohnungen leer. 90 Prozent des Leerstandes sind in den Altbaugebieten zu finden. In der Altstadt beträgt der Wohnungsleerstand 32,3 Prozent, in der Ostvorstadt liegt er bei 38,8 Prozent. Einzig in Wurzen-Nord beschränkt sich der Leerstand auf 7,8 Prozent.

An dieser Leerstandsverteilung haben auch energische Sanierungsbemühungen nichts ändern können. Allein in der Altstadt wurden seit 1990 zwanzig Millionen Euro an Fördermitteln investiert. Dank dieser Gelder gelang es, rund zwei Drittel aller Wurzener Altbauten zu sanieren. Diese Entwicklung wollten auch die ersten Abrißkonzepte aus dem Jahr 2002 fortsetzen, die erhebliche Abrisse in Wurzen-Nord vorschlugen.

Doch dann setzten drei Trends ein, die all diese Pläne durchkreuzen sollten. Die erste Entwicklung hatte mit den unerwarteten Wohnbedürfnissen der Senioren zu tun. Viele von ihnen legten beispielsweise nur wenig Wert auf städtisches Leben und schöne Fassaden, umso mehr dagegen auf Kleingärten. Ebenso wichtig waren ihnen wohnungsnahe Grünflächen, Balkone und Garagen, in denen vor allem die älteren Herren ihre Autos pflegten. Und fast einmütig war das Bedürfnis nach Ruhe. Zweitens erlebte Wurzen in den letzten Jahren eine Renaissance der Großvermieter, von der vor allem die Wohnungsgenossenschaft Wurzen profitierte. Denn diese kümmerte sich nicht nur um die Pflege und Sanierung ihrer Wohnungen und des Wohnumfeldes, sondern etablierte auch eine regelrechte Rundum-Betreuung für ihre Mieter. Nähkurse, Malzirkel und Wandergruppen gehören ebenso zum Angebot der Genossenschaft wie Hartz IV-Beratungen und Vorträge zu Renten- und Erbschaftsfragen. Gerade in unsicheren Zeiten stoßen derartige Angebote auf eine große Nachfrage. Deshalb gelang es der Wohnungsgenossenschaft, ihre Leerstandsquote von 5,6 auf 3 Prozent zu senken. Die dritte und neueste Trend schließlich hat mit den sinkenden Renten, den Hartz IV-Gesetzen und dem Anstieg der Energiepreise zu tun. Diese Faktoren förderten die Nachfrage nach sehr kompakten, funktionalen und deshalb sparsamen Wohnungen.

Der Gewinner dieser Trends ist Wurzen-Nord. Hier befinden sich fast alle Wohnungen der Wohnungsgenossenschaft, hier gibt es Balkone, barrierefreie, kompakte Wohnungen, hier gibt es Grünflächen, Garagen, Kleingartenkolonien und eine Straßenführung, die den lauten Durchgangsverkehr von den Wohnungen fernhält. Die Innenstadtviertel dagegen geraten zunehmend ins Hintertreffen. Hier ist es nicht nur der vielerorts vorhandene Verkehrslärm, der gerade die ruhebedürftigen Senioren zum Umzug treibt. Auch der Mangel an Balkonen, barrierefreien Wohnungen und Grünflächen erweist sich als Handicap. Die Konsequenz sind wachsende Wanderungsbewegungen, die aus den Altbauquartieren nach Wurzen-Nord führen.

Und wo die Bürger wegziehen, folgen die Abrißbagger, die in Wurzen ausschließlich im Altbaubestand ihren Dienst tun. Barocke Bürgerhäuser aus dem späten 18. Jahrhundert fielen ihnen ebenso zum Opfer wie eine pompöse Neorenaissancevilla von 1880, Handwerkerhäuser aus dem frühen 19. Jahrhundert, Mietshäuser aus der Zeit um 1900 und eine Gutsanlage aus dem 16. Jahrhundert.

Strategien für eine Rettung der reichen Wurzener Denkmallandschaft sind nicht in Sicht. Zwar wurden im Rahmen der Modellstadt-Initiative renommierte Planungsbüros, wie das Leipziger Büro für urbane Projekte und das Dessauer Büro für Siedlungserneuerung, herangezogen. Doch solange die Schrumpfung weitergeht, können auch sie nur entscheiden, ob sie mehr in der Ostvorstadt oder mehr in der Altstadt abreißen wollen. Wenig Chancen haben auch unkonventionelle Ideen zur Rettung der Altstadt. Im Gespräch sind "Altstadtwärter", die für das Wohnen in der Altstadt bezahlt werden, oder die Einführung genossenschaftlicher Wohnformen in der Altstadt. Doch für die Umsetzung dieser Ideen gibt es weder die nötigen Gesetze noch Förderprogramme. Am Ende bringt das Modell Wurzen nur eine Erkenntnis: Daß es um das baukulturelle Erbe in Zeiten der Schrumpfung schlecht bestellt ist.

Matthias Grünzig