Artikel/Vorträge zum Stadtumbau - Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.07.2005
Man zwingt keinen zu seinem Glück (Chemnitz)

Auf der jüngsten Bauministerkonferenz im Juni dieses Jahres hat Bundesbauminister Manfred Stolpe eine positive Bilanz des Stadtumbaus Ost gezogen. Die ostdeutschen Städte seien gestärkt worden, viele Stadtteile hätten an Attraktivität gewonnen. Den Chemnitzer Stadtteil Brühl konnte er aber kaum gemeint haben. Denn dieses denkmalgeschützte Viertel, das zwischen 1820 und 1900 errichtet worden war, gleicht heute einer Geisterstadt. Hier gibt es Einkaufsstraßen, in denen fast alle Läden leer stehen und Karrees, in denen alle Wohnungen verlassen sind. Und an der Mühlenstraße sind schon die Abrißbagger am Werk, um ein Haus nach dem anderen dem Erdboden gleich zu machen.

Bilder wie diese ähneln auf den ersten Blick dem Verfall und den Abrissen, die in den sechziger und siebziger Jahren in ostdeutschen und westdeutschen Altbauquartieren an der Tagesordnung waren. Manch einer fühlt sich an Zeiten erinnert, als Planer von autogerechten Städten träumten, als Bürgerinitiativen gegen die Abrisse protestierten und als Hausbesetzer in leerstehende Häuser einrückten. Doch in Chemnitz ist vieles anders, und das macht die Lage so kompliziert.

Denn der Brühl war während der DDR-Zeit keineswegs vernachlässigt worden. Im Gegenteil: Um 1980 wurde der ganze Stadtteil aufwendig saniert und in ein lebendiges Quartier mit Cafe´s, Kneipen und Läden verwandelt. Dort gab es geschlossen bebaute Straßenzüge, Gründerzeithäuser mit Stuckfassaden, Ecktürmchen und Läden im Erdgeschoß. Der Niedergang des Brühls begann erst nach 1990. Damals zogen die Einwohner entweder in neue Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand oder in die alten Bundesländer, wo es mehr Arbeitsplätze gab. Chemnitz wurde zur schrumpfenden Stadt. Während die Stadt 1989 noch 310.000 Einwohner zählte, beträgt die Einwohnerzahl heute trotz Eingemeindungen nur noch 250.000. Und auch der Handel verlagerte sich aus dem Brühl in neue Shopping-Center. Was blieb, das war der Leerstand.

Auch die Chemnitzer Stadtplaner lassen sich nicht in die Kategorie der abrißwütigen Altbaufeinde einordnen. Ihre anfänglichen Planungen für den Schrumpfungsprozeß sahen sogar die Stärkung der Altbauviertel vor. Zu diesem Zweck sollte die Stadt von außen nach innen schrumpfen. Ganz in diesem Sinne war das 2001 erarbeitete Integrierte Stadtumbauprogramm angelegt. Geplant war, das äußerste Plattenbaugebiet Hutholz-Süd vollständig abzureißen, um innerstädtische Stadtteile, wie den Brühl, zu stärken. Die Bürger, so glaubten die Stadtplaner, würden mit Begeisterung aus den Plattenbauvierteln am Stadtrand in die urbanen Innenstadtbezirke umziehen.

Doch die Bürger zeigten sich von den Stadtumbauplänen alles andere als begeistert. Die Bewohner von Hutholz-Süd etwa starteten heftige Proteste gegen den Abriß ihres Viertels und erklärten, daß sie auf keinen Fall an den Brühl ziehen wollten. Auf Einwohnerversammlungen wurde deutlich, daß sich viele Bürger wenig um Urbanität und schöne Fassaden scherten. Umso mehr interessierte sie die Frage, ob sie ihr Auto direkt vor der Haustür abstellen können. Zudem verwiesen sie auf weitere Qualitäten von Hutholz-Süd, wie die nahe Natur und die Fernsichten auf das Erzgebirge, die der auf einem Hügel gelegene Stadtteil gewährt.

Für Stadtplaner, die dem Prinzip der Behutsamen Stadterneuerung und der Bürgerbeteiligung verpflichtet sind, bringt diese Lage ein Dilemma. Sollen sie sich für die Belebung der Altbauten entscheiden und die Bürger notfalls auch mit Druck in diese Gebiete einweisen? Noch schwieriger wird die Lage durch die Tatsache, daß unpopuläre Maßnahmen kaum durchsetzbar sind, weil sie vom Wähler umgehend bestraft werden. Bei der Chemnitzer Kommunalwahl im vorigen Jahr wurden die bislang regierenden Parteien CDU und SPD auf insgesamt 42 Prozent zurechtgestutzt, während ein rechtsradikales Bündnis 10 Prozent aller Stimmen holte und die PDS mit 27 Prozent zur stärksten Partei aufstieg.

Angesichts dieser Zwänge war es kein Wunder, daß die Abrißpläne für Hutholz-Süd zu den Akten gelegt wurden. Zu alledem wurden mittlerweile einige Hutholzer Wohnblöcke zu Eigentumswohnanlagen umgebaut, die sofort verkauft werden konnten. Abrisse sind hier ausgeschlossen. Die Kehrseite dieser Entwicklungen war aber ein verfestigter Wohnungsleerstand am Brühl, der schließlich zum Abriß des Karrees zwischen der Haubold- und der Mühlenstraße führte. In einem ersten Schritt werden derzeit 16 Häuser abgerissen. Und die Abrisse am Brühl sind kein Einzelfall. Auch an der Zwickauer Straße, auf dem Sonnenberg und im Schlossviertel wurden schon größere Abrisse vorgenommen, und demnächst soll ein Teil der Siedlung Humboldthöhe, die zwischen 1928 und 1932 vom Chemnitzer Stadtbaurat Fred Otto errichtet worden war, verschwinden.

Ein Schicksal sind die Abrisse dennoch nicht. Denkbar wären Konzepte, die das Problem des Bevölkerungsrückganges an der Wurzel packen, wie eine Stärkung der Wirtschaft oder eine kinderfreundliche Familienpolitik. Doch solange die Schrumpfung wie ein Naturgesetz hingenommen wird, werden die Abrisse wohl weitergehen.

Matthias Grünzig